23.09.2021 | Fachkräftemangel

'Traditionelle Kanzleien erleben gerade einen sehr, sehr leeren Arbeitsmarkt'

DKB

Von Alexandra Buba / Interview mit Melchior Neumann

Der Berliner Kanzleimanager der Kontist Steuerberatung, Melchior Neumann, gründete vor sieben Jahren die Infoplattform steuerazubi.de. Damals wie heute ging es dort um einen offenen Austausch und echte Geschichten aus der Kanzleiwelt. Wie kaum jemand sonst kann der Steuerfachangestellte beurteilen, was Fachkräfte heute in der Steuerberatung tatsächlich anspricht, was sie eher abschreckt – und vor allem, wo sie erreichbar sind.

STB Web:
Melchior, was ist Steuerfachangestellten bei der Wahl ihres Arbeitgebers besonders wichtig?

Foto: © Melchior Neumann

Melchior Neumann:
Junge Menschen sind jung, nicht dumm, und deshalb spielt Authentizität eine viel wichtigere Rolle als Image. Der Inhalt von Hochglanzbroschüren interessiert niemanden mehr, da allen klar ist, dass auch in Kanzleien nur Menschen arbeiten und sich dort keine perfekte Welt abspielt. Jeder weiß, dass es keine makellosen Arbeitgeber*innen gibt.

Vor sechs Monaten habe ich in unserer Community eine Umfrage gestartet, mit überraschendem Ergebnis: Allein 800-mal kam die Antwort "ein menschliches Miteinander" auf die Frage, was das Wichtigste an einem Arbeitgeber sei. Nummer zwei war das flexible Arbeiten, an dritter Stelle steht die Möglichkeit zum Homeoffice.

Als junger Mensch will man auf Augenhöhe abgeholt werden.

STB Web:
Was signalisiert Deiner Generation dieses menschliche Miteinander bei einer Kanzlei?

Melchior Neumann:
Als junger Mensch will man auf Augenhöhe abgeholt werden. Wenn ich auf eine Website, eine E-Mail oder ein facebook-Profil schaue, sehe ich dort doch sofort, wie alt oder jung die Arbeitsweise einer Kanzlei ist. Wenn mir dann etwas anderes suggeriert werden soll, werde ich skeptisch. Tatsächlich kann ich Kanzleichefs nur den Rat geben, über Social Media- oder Recruitingkonzepte lieber die eigenen Kinder entscheiden zu lassen, als aus ihrer eigenen Perspektive heraus beurteilen zu wollen, was junge Menschen anspricht.

STB Web:
Wie kann eine Kanzlei sonst noch punkten?

Melchior Neumann: 
Dadurch, dass ich merke, die lieben ihren Beruf und haben einen Plan für die Zukunft. Denn natürlich ist klar, dass die Branche vor einem Umbruch steht, aber die Digitalisierung wird nicht dazu führen, dass die grundlegende Beratungsleistung wegfällt. Das, was wir können, wird immer in irgendeiner Weise gebraucht werden, deshalb haben wir einen sicheren Job.

STB Web:
Das gilt umso mehr in Zeiten, in denen Fachkräfte in der Steuerberatungsbranche dringend gesucht sind. Wie groß sind die Wahlmöglichkeiten bei der Jobsuche für Euch?

Melchior Neumann:
Ich würde sagen, wer einen Ausbildungsplatz sucht, hat nicht unbedingt so viele Wahlmöglichkeiten. Wer jedoch fertig ist, kann wählen, ja. Ich denke, wenn ich es darauf anlegen und meine Suche in Facebook oder LinkedIn posten würde, hätte ich hier in Berlin in zwei, drei Tagen sicherlich zehn Angebote von Kanzleien.

Vergleichen lässt sich das vielleicht mit Shoppen Gehen.

STB Web:
Wie recherchieren Steuerfachangestellte nach einer passenden Stelle?

Melchior Neumann:
Man muss unterscheiden zwischen denjenigen, die wirklich aktiv suchen, das sind vielleicht ein oder zwei Prozent aller Angestellten und denen, die offen für ein spannendes Angebot wären, ich denke, das sind etwa 30 bis 40 Prozent. Vergleichen lässt sich das vielleicht mit Shoppen Gehen: Wenn ich ganz genau weiß, dass ich Wanderschuhe brauche, dann gehe ich in ein Geschäft, probiere ein oder zwei Modelle in meiner Größe an und nehme sie. Diese Leute sind auf Stepstone oder Indeed unterwegs.

Anders diejenigen, die einfach bummeln: Ihnen begegnen interessante Jobs bei ihrer ganz normalen Mediennutzung, auf den Kanälen, wo sie bestimmten Kanzleien folgen, auf Youtube, TikTok oder Instagram. Kanzleien, die spannende Kanäle mit einer bestimmten Reichweite aufgebaut haben, brauchen sich nicht zu sorgen: Wenn sie ein Jobangebot posten, haben sie auf Anhieb einen Stapel an Bewerbungen. Das macht auch eines klar: Die guten Leute suchen nicht mehr, weil sie vorher schon abgeholt wurden.

Wenn meine Generation etwas nicht kann, dann ist es blinder Gehorsam.

STB Web:
Deshalb erleben vermutlich viele  traditionelle  Kanzleien gerade einen sehr, sehr leeren Arbeitsmarkt. Gibt es für Dich absolute No-Gos bei einer Kanzlei?

Melchior Neumann:
Wichtig ist, dass ich eine Perspektive sehe. Und damit meine ich nicht nur meine eigene als Mitarbeitender, mit Weiterbildung und ähnlichem, sondern insbesondere eine Vision für die Kanzlei selbst. Wenn ich das Gefühl habe, da geht es nur darum, noch zehn Jahre bis zum Ruhestand durchzuhalten, ehe dann das Ungemach der Digitalisierung hereinbricht, dann gibt mir das als 20-Jähriger Neueinsteiger keine Sicherheit. Wer als Kanzleichef glaubt, junge Menschen müssen so etwas akzeptieren, der erwartet blinden Gehorsam, und wenn meine Generation etwas nicht kann, dann ist es genau das.

Außerdem gehen bei mir alle Alarmglocken an, wenn ich höre, ein Mitarbeitergehalt ist auf 30 Prozent des eigenen Umsatzes limitiert. Das akzeptiere ich deshalb nicht, weil ich ja gar keinen Einfluss auf die 100 Prozent habe, die der Chef vielleicht mit seinen Freunden verhandelt und ich außerdem kein vergiftetes Klima unter den Kolleg*innen brauche.

STB Web:
Was braucht Ihr denn stattdessen?

Melchior Neumann:
Eine Arbeit, die Sinn stiftet. Zwar spricht der Beruf des Steuerfachangestellten vor allem Leute an, die sich weiterentwickeln wollen, da dies vermutlich die einzige Branche ist, in der ich ohne Studium den Freiberufler-/Kammerberufstatus erreichen kann. Doch der Sinn ist trotzdem wichtig, da ich nicht einfach meine 40 Stunden absitzen will, und er stellt sich nicht dadurch ein, dass ich Umsatzsteuervoranmeldungen am Fließband ausfülle. Wenn ich aber sehe, was wir zum Beispiel letztes Jahr abgerissen haben, indem wir Soforthilfe organisiert und vielleicht 20 Unternehmen vor der Pleite gerettet haben, dann ergibt das Sinn.

Das rüber zu bringen ist wichtig, wenn man junge Leute ansprechen will. Ich möchte noch betonen: Eine junge Arbeitsweise bedingt nicht unbedingt blutjunge Kanzleiinhaber*innen  vielmehr geht es um jung im Kopf. Lust auf Veränderung haben, und nicht schon an alles einen Haken gemacht zu haben, das ist gefragt.

Der Sinn ist trotzdem wichtig, da ich nicht einfach meine 40 Stunden absitzen will.

STB Web:
Stellst Du Veränderungen durch die Pandemie fest?

Melchior Neumann:
Tatsächlich muss ich sagen – auch wenn ich mir einen anderen Treiber gewünscht hätte – Corona wirkte als Brandbeschleuniger für Dinge, die vorher schon da waren. So werden sich alle, die das Chaos im Homeschooling als Schüler*innen erlebt haben, sehr genau anschauen, wie digitalisiert ein künftiger Arbeitgeber arbeitet, weil sie sich nicht noch einmal in einer ähnlichen Situation wiederfinden wollen. Daneben ist natürlich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie das große Thema. Teilweise wurde ein unglaubliches Drama darum gemacht, Homeoffice einzurichten, weil das Grundvertrauen in die Mitarbeitenden fehlte. Dieses Misstrauen wurde erst durch Corona aufgedeckt. 

Umgekehrt gab es Kanzleien, die hier einen Super-Job gemacht haben, Kitas eingerichtet oder Homeschooling unterstützt haben. Manche haben auch die Ausfälle der Berufsschulen durch fachliche Angebote aufgefangen. Auf so etwas schauen die Leute jetzt sehr genau. Wenn ich als Kanzleichef auf der Suche wäre, würde ich diese Punkte jetzt ganz subtil in meine Stellenanzeige einfließen lassen.


Weiterführende Informationen:

www.steuerazubi.de

 

Alexandra BubaDas Gespräch führte Alexandra Buba. Sie ist freie Journalistin und spezialisiert auf die Themen der Steuerberatungsbranche (www.medientext.com) und schreibt regelmäßig für die STB Web-Redaktion.

Hinweis: Beachten Sie bitte das Datum dieses Artikels. Er stammt vom 23.09.2021, sodass die Inhalte ggf. nicht mehr dem aktuellsten (Rechts-) Stand entsprechen.