21.11.2022 | Buchrezension

Nicht mehr normal

DKB

Rezension zu: "Nicht mehr normal - Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs", Stephan Lessenich, Hanser Berlin 2022

Von Manuel Maurer

Spätestens die Corona-Pandemie hat das Normalitätsverständnis der Gesellschaft erschüttert. Befremden, Angst – nicht nur vor der Erkrankung, auch vor dem existenziellen Zusammenbruch – und eine im Zuge der Alltagsbeschränkungen immer stärker werdende Sehnsucht, zur Normalität zurückzukehren, prägten über viele Monate den aus dem Ruder laufenden Alltag. Nicht mehr normal war das. Tatsächlich fing alles schon früher an.

Stephan Lessenich
Stephan Lessenich ist Professor für Gesellschaftstheorie und Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktor des Instituts für Sozialforschung. (Foto: © Stephan Lessenich)

Schon die Finanzkrise katapultierte die westlichen demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften in einen Ausnahmezustand; gefolgt von der sogenannten Migrationskrise, der Klimakrise, der Pandemie und nun, als wir gerade dachten, jetzt wird alles wieder normal, brach auch noch Krieg aus in Europa und beschert uns des Weiteren eine Inflationskrise und die Energiekrise mit unbekanntem Ausgang.

Autor Stephan Lessenich, Professor für Gesellschaftstheorie und Sozialforschung, analysiert in seinem bei Hanser Berlin erschienenen Buch insbesondere die Reaktion der Gesellschaft auf all diese Krisen, die seiner Beobachtung nach zentral geprägt ist von dem dringlichen Wunsch, zur Normalität zurückzukehren. Er stellt dabei diese "alte Normalität" auf den Prüfstand. War das überhaupt normal? Welche vermeintlichen Freiheiten, nach denen wir uns zurücksehnen, waren und sind bei genauerem Hinsehen nicht eigentlich fragwürdige Zwänge oder ungerechtfertigte Privilegien gegenüber anderen? Was ist überhaupt Normalität, wie kommt sie zustande, wer ist Teil davon – und wer nicht? Wer profitiert von einem bestimmten Normalitätskonsens? Und was tritt an die Stelle einer Normalität, die immer mehr bröckelt, immer weniger trägt und womöglich längst überkommen ist?

Das sind die zentralen Fragen, durch die der Autor kurzweilig, manchmal unterhaltsam, doch stets treffsicher und fundiert führt. Lessenich konfrontiert die Leser*innen dabei auch mit Unbequemem und zeigt die Mechanismen kollektiver wie auch individueller Verdrängung und Regression auf, derer man sich stellen und bewusst werden sollte, um andere Reaktionen auf Krisen sowie Möglichkeiten des Zusammenlebens überhaupt denken, wagen und schließlich erlernen zu können.

Deutschland ist kein Einwanderungsland, wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, der Strom kommt aus der Steckdose.

Zunächst widmet sich der Autor der Begrifflichkeit dieser sogenannten Normalität, die gern als (gott-) gegeben oder evolutionsbedingt dargestellt wird und damit nicht in Frage zu stellen ist. Tatsächlich haben wir es in unserer wohligen Mitte mit einem sozialen Konstrukt zu tun – das es uns in vielerlei Hinsicht auf Kosten anderer Bevölkerungsgruppen und Weltbevölkerungen so besonders bequem macht. "Gesellschaftliche Normalität ist [...] nichts Gegebenes, sondern etwas durch und durch Gemachtes". Das bedeutet allerdings glücklicherweise auch, dass Normalitätsvorstellungen "veränderbar und gestaltbar" und damit "prinzipiell offen für Neues" sind. Demgegenüber stehen grundlegende Bedürfnisse nach Sicherheit und Gewissheit, aber auch das Festhalten an sozialen und ökonomischen Privilegien und Komfort, weshalb auf Krisen politisch meist mit Maßnahmen reagiert wird, die eher einer illusionären Normalitätssimulation gleichkommen, als strukturellen Reformen den Weg zu ebnen. Letztere würden freilich auch mehr als lediglich eine von Aufregungen und Empörungen geprägte Legislaturperiode beanspruchen.

Stattdessen erfolgt die Ausblendung von Widersprüchen unserer Normalität durch staatliche Interventionen ­– "koste es, was es wolle" – zur Aufrechterhaltung eines Wirtschaftslebens, das der Markt offenbar nicht mehr nur für die ökonomisch Schwächeren nicht mehr zu regeln in der Lage ist, sondern immer stärker auch die vermeintlich so stabile Mitte in Bedrängnis bringt.

Gesellschaftliche Normalität ist [...] von den demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften in den vergangenen Jahrzehnten erkauft worden.

Die zwanghafte Renditeorientierung der kapitalistischen Akteure ist dabei keineswegs nur eine Spielart der Hochfinanz und Großkonzerne, sondern bestimmt längst auch das ökonomische Handeln der Mitte selbst; sie ist zudem fest in den Konsummärkten, Wohlfahrtsmärkten und Immobilienmärkten verankert, vom Ratenkredit und der Kreditkarte über Altersvorsorge und privater Kapitalanlage bis hin zu Immobilienbesitz und Baufinanzierung. Allen gemein ist der Vorgriff auf eine ungewisse Zukunft, die in immer kürzeren Abständen von Krisen heimgesucht wird, so dass die jeweilige Rechnung ohne den intervenierenden Staat rasch nicht mehr aufgeht. In der Folge verschärfen sich Verteilungskonflikte und die blanken Nerven führen zu Abschottungsreaktionen.

Der Autor spricht mit Blick auf die besitzenden Mittelschichten insofern auch von "Täteropfern", weil sie fraglos Systemzwängen unterworfen seien, diese aber ungeachtet deren kollektiver Auswirkungen selbst reproduzieren würden.

Was Lessenich im Finanzmarktkapitel als (spekulative) Aneignung der Zukunft oder auch "gekaufte Zeit" beschreibt, erweitert er im Kapitel zur sogenannten Einwanderungspolitik auf den "gekauften Raum". Auch hier würden keine Mittel gescheut, um die europäische Normalitätszone im allgemeinen und die gesellschaftliche "Mitte" im besonderen vom Gros der Migrationsbewegungen freizuhalten, damit für uns nur ja alles "normal" bleibt; konsequent ausgeblendet in der Migrationsdebatte würden dabei u.a. die Fluchtursachen und was diese mit unserem Wohlstandsmodell zu tun haben könnten.

Je höher hinaus es [...] ging, desto tiefer musste weltweit geschürft, gebohrt und gegraben werden.

Dieses Wohlstandsmodell ist besonders geprägt von der Wachstumsillusion, der "Vorstellung von der endlosen Steigerungsfähigkeit wirtschaftlicher Wertschöpfung und, damit verbunden, materiellen Wohlstands". Über die faktischen Grenzen dieser Wachstumsidee und ihr Einhergehen mit der Ausbeutung natürlicher und menschlicher Ressourcen wurde schon viel geschrieben, man ahnt auch den Zusammenhang mit der Energiekrise. Die Klimakrise liegt bereits offen zur Schau. Zwar erklären sich immer mehr Menschen grundsätzlich bereit, Ihre Lebensweise anzupassen, doch eine Mehrheit reagiert weiterhin allergisch, wenn Einschränkungen verhandelt werden sollen. Klimaaktivist*innen treffen derzeit besonders den Nerv und werden zur eigentlichen Bedrohung umgedeutet. Gar von Klima-RAF ist bisweilen die Rede.

Buchcover: Stephan Lessenich: Nicht mehr normal - Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs
Stephan Lessenich: Nicht mehr normal - Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs,
160 Seiten, ISBN: 978-3-446-27383-2.

Ein besonders wichtiger Aspekt, den Lessenich aus seiner soziologischen Perspektive anspricht, ist die dem Wachstumsmodell zugrunde liegende Logik der Konkurrenz, nach der nicht nur die Märkte funktionieren, sondern von der auch die ihnen unterworfenen Individuen beherrscht werden. Konkurriert wird nicht nur um Investitionschancen, Margen und Marktanteile; Konkurrenzpraktiken durchdringen vielmehr alle Lebensbereiche von der Pike auf und gipfeln im sozialen Vergleich um Verdienst und Konsum: Der bessere Job, das dickere Auto, der tollere Urlaub und so fort. Wie aber soll eine Abkehr von illusionärem Wirtschaftswachstum und rücksichtsloser Ausbeutung von Mensch und Natur gelingen, wenn die Mehrheit der Individuen selbst all ihre Handlungen danach ausrichtet, andere auszustechen, besser da zu stehen, mehr zu haben, uneingeschränkt mobil zu sein und stets ihre Rendite zu sichern? Wir sind gesellschaftlich und ökonomisch nicht ernsthaft dazu angehalten, uns solidarisch, gemeinwohlorientiert und nachhaltig zu verhalten. Das kann man freilich ändern und dieses Andere normalisieren.

Lessenich schlägt aber noch einen weiteren wichtigen Bogen, den man(n) ungern serviert bekommt: Nämlich, dass es historisch bis hinein in die Gegenwart einer hierarchischen Geschlechterordnung bedurfte und bedarf, um die Wachstumsgesellschaft, die so "normal" geworden ist, praktizieren und aufrechterhalten zu können. Und auch hier wird rasch deutlich: die Wachstumsgesellschaft entspringt keiner Naturlogik, sie ist sozial konstruiert, "herr"schaftlich durchgesetzt – und insofern überwindbar.

Folgerichtig ist daher auch der Blick des Autors auf die Identitätspolitik. Wie kann es sein, dass gerade die privilegiertesten Vertreter der Mitte buchstäblich die Nerven verlieren, wenn sozial und rechtlich marginalisierte Gruppen Sichtbarkeit, Teilhabe und gleiche Rechte fordern, so dass stellvertretend hierfür, als Verschiebung sozusagen, ein emotional aufgeladener Kulturkampf etwa um gendergerechte Sprache entstanden ist? Der Autor thematisiert hier "Etablierte-Außenseiter-Beziehungen" und dass es in solch hochgradig emotional bis aggressiv geführten "Debatten" im Wesentlichen um "die Verteidigung von als gefährdet wahrgenommenen Etablierten(vor)rechten" geht.

Die Ahnung vom Ende ihrer kulturellen Hegemonie ist es, die all diejenigen, die bislang den Ton angaben, nervös werden lässt.

Und so führt der Autor pfeilgerade durch die "gesellschaftliche Großwetterlage krisenhafter Normalitätskonstruktionen und nervöser Zuckungen" und attestiert der Mehrheitsgesellschaft regressives Verhalten, obwohl auch andere Reaktionen auf multiple Krisen möglich wären. Zwar erachtet Lessenich es als zu kurz gegriffen, wenn man gewisse Trotzreaktionen pauschal im Bereich des Rechtspopulismus verortet. Abstrafungen auf den Wahlzetteln lassen sich freilich beobachten und auch die Gemengelage in manch bürgerlichen Protestbewegungen offenbaren besorgniserregende Vermischungen mit offen rechten Gruppierungen. Rechte Gruppen und Parteien triggern außerdem die angespannten Nervenenden der Mitte sehr gezielt, um ihre eigentlichen Themen eben dort anschlussfähig zu machen – perfid und keineswegs harmlos.

Doch worauf es für den Autor eigentlich ankommt, ist die Gewahrwerdung des Irrsinns, die Reflexion der eigenen und kollektiven Angst vor dem Verlust einer eigentlich überkommenen Normalität und die Öffnung für ein "wahres Neudenken der kollektiven Möglichkeiten".

Ein sehr lesenswerter Text und mit Herrmann Hesse möchte man einstimmen: "Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!"

Rezensent:

Manuel Maurer Rezension von Manuel Maurer, Herausgeber und Chefredakteur von STB Web, Online-Fachmagazin für Steuerberater*innen und verwandte Berufsgruppen.

Hinweis: Beachten Sie bitte das Datum dieses Artikels. Er stammt vom 21.11.2022, sodass die Inhalte ggf. nicht mehr dem aktuellsten (Rechts-) Stand entsprechen.